Der Abstand und ich

In meiner Ausbildung zur Ehe-und Erziehungsberaterin lernte ich, dem anderen  nahe zu sein und doch Abstand zu halten. Als Beraterin muss ich Gefühle nachspüren können, ohne mich in sie hineinziehen zu lassen. Ich muss Abstand halten zu eigenen Werten und die Werte des anderen anerkennen, egal, wie ich selbst dazu stehe. Ich muss mich in andere Menschen hineinversetzen und doch  immer soviel Abstand wahren, dass mir geeignete Interventionen einfallen. Meine Fragen und Impulse sollten andere nicht einengen oder in eine bestimmte Richtung drängen. In Teambesprechungen und Supervisionen wird immer wieder hinterfragt, ob ich als Beraterin den nötigen Abstand habe. Dazu ist es absolut notwendig, dass ich mir eigene Lebensfragen, Gefühle und ungelöste Probleme bewusst mache.

Die Arbeit als Beraterin ist immer eine Gratwanderung zwischen Abstand und Nähe, und ja, auch zwischen Herz und Verstand.

In der Beratungsstelle arbeitete ich professionell und lernte täglich an meinen Fehlern. Ich machte nicht alles richtig, aber die meisten Beratungsgespräche gelangen mir recht gut. Ich war dann in der Lage, den nötigen Abstand zu den Klienten und Klientinnen zu halten oder zumindest immer wieder herzustellen.

Später arbeitete ich als Lehrerin in einer Förderschule Geistige Entwicklung. Alles, was ich gelernt hatte, konnte ich auch hier gut anwenden. Theoretisch. Praktisch gelang es mir nicht immer, den nötigen Abstand zu den Schülern und Schülerinnen sowie zu den Eltern zu halten. Manchmal war ich an Konflikten gefühlsmäßig zu sehr beteiligt. Wenn es nicht gelang, Abstand zu halten, waren meine Reaktionen nicht immer professionell genug. Zum Glück konnte ich mithilfe von Supervisionen Wege aus diesen „Gefühlsspiralen“ finden und meinen Schülern wieder mit dem nötigen Abstand (und Respekt) begegnen.

In der Familie gelang mir die Geschichte mit dem Abstand nicht so gut. Hier fiel es mir manchmal doch recht schwer, mich abzugrenzen, unsere Konflikte mit Abstand zu betrachten und zu lösen. Ist ja logisch, denn ich war ja keine  professionelle Mutter und Ehefrau, sondern ein privater, sehr gefühliger Teil des Systems Familie. In ganz schweren Zeiten wurde ich nun selbst Klientin einer Beratungsstelle, um das wieder auf die Reihe zu kriegen. Nein, meine Ehe hat trotzdem nicht gehalten. Wir haben es nicht geschafft, in der Nähe den nötigen Abstand zu wahren. Wir sind geschieden und  können uns jetzt als Eltern unserer erwachsenen Kinder wieder freundlich begegnen. Die Grenzen sind klar definiert und der Abstand tut uns beiden gut.

Unser Familiensystem ändert sich laufend und wir sind immer wieder dabei, die Grenzen zwischen Abstand und Nähe auszuloten. Wenn ich mal wieder nicht so gut damit zurecht komme, gönne ich mir eine Familienaufstellung. Hier kann ich mit Abstand, aber auch mit hoher Gefühlsintensität, meine Familiengeschichte und meine  Schwierigkeiten mit Nähe und Distanz anschauen. Das hilft!

 

 

 

8 Kommentare

  1. Interessant
    Ich könnte so was nicht
    Abgrenzen kann ich mich inzwischen ganz gut … weil ich meine Grenzen reparieren lassen durfte … wofür ich sehr dankbar bin
    Aber ich fühle oft die Gefühle anderer Menschen und da muss ich dann raus gehen aus der Situation wenn es zuviel wird

    Meinen Respekt dir … und ich denke, man kann halt nicht immer alles retten
    Umso schöner, dass ihr euch jetzt wieder neu begegnen könnt

    Alles Liebe ❤

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  2. Mancher Abstand will geübt werden.
    Ich übe gerade den nötigen Abstand zu meinen Jungs zu halten.
    Den benötigten Freiraum zuzulassen damit sie sich zu tollen selbstständigen jungen Männern entwickeln können.
    Von Tag zu Tag gelingt es mir besser. Mit einer großen Portion Gelassenheit werde ich es bestimmt schaffen.
    (Jetzt habe ich direkt drei Themen zusammen gefasst). 😁

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    • So habe ich es mit meinen Jungen auch gehalten. Ich wollte, dass sie sich von mir abnabeln und abgrenzen, dass sie deswegen kein schlechtes Gewissen haben und dass sie ein selbständiges Leben führen. Es ist gelungen und manchmal vermisse ich sie doch sehr. Aber das darf auch sein.
      Du hast recht, es muss geübt werden, die Kinder loszulassen und es ist nicht immer einfach, das durchzuhalten. Aber es lohnt sich. Liebe Grüße! Regine

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  3. … schöner Beitrag
    Es war bei mir nicht direkt eine Liebesheirat – nein – ich wollte aus dem Elternhaus ausbrechen – hatte auch schon vorher einen Auszug geplant … nach Stuttgart … gesagt – getan – meine beiden Freundinnen hatten dieselbe Idee
    um Abstand von meinem widerlich nervigem Vater zu gewinnen –
    um seinen mittelalterlichen Erziehungsmethoden ein Ende zu bereiten –
    Abstand bedeutete für mich FREIHEIT – diesen Abstand vom Elternhaus wählte ich kurzentschlossen –
    damit endlich mein Mädchendasein eine moralisch unbekümmerte Struktur annimmt 🙂
    Uns … Mutter, Bruder und mir … standen nur eine Zweizimmerwohnung zu … alles war gut – bis mein Vater mit einzog … ich musste mit Vater – Bruder ein Schlafzimmer teilen … grauenvoll 😦 Muttern schlief in der Wohnküche. Wo sollte hier ein Freiraum einer Privatsphäre eingehalten werden … den gab es definitiv nicht.
    Erst in Stuttgart atmete ich auf … ich hatte ein Zimmer für mich ganz allein … Ein Glücksgefühl Hoch³
    Es war eine tollkühne Entscheidung – denn ich war damals noch nicht Volljährig (17 1/2) –
    Wenn ich mein Leben so Revue passieren lasse – bin ich stolz und beeindruckt von so vielen schönen Eindrücken die mir mein Leben hinterlassen hat – mit Respekt und Abstand

    alles Liebe Dir liebe Frau Holle ❤
    dir gebührt Respekt und zeigte wie wichtig der nötige Abstand dein Leben zum eigenen existenten *ICH* formte
    die zuzaly 🙂

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    • Oh, oh….da machst Du ein ganz neues Fass auf. Ja, den Abstand zu meinen Eltern musste ich mir bis ins Erwachsenenalter schwer erkämpfen und war mit vielen schlimmen Konflikten in der Familie verbunden. Die Auswirkungen spüre ich noch heute, obwohl meine Eltern schon lange tot sind.
      Das wollte ich meinen Kindern ersparen. Liebe Grüße und ich hoffe, Dir geht es den Umständen entsprechend gut! Regine

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      • Vor diesen Erinnerungen an meinen Vater halte ich riesengroßen Abstand zwischen meinem Unterbewusstsein und der Realität… Habe ihn regurios verdammt

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      • Manchmal ist das sicher nötig, liebe Suzaly. Ich allerdings bin froh darüber, dass ich mit meinen Eltern meinen Frieden gemacht habe. Die beiden haben es mit ihren unbewältigten Kriegstraumen nicht anders machen können, sonst hätten sie es sicher getan.

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