Was bisher geschah….
Nicht viel, das muss man gestehen – in 3 Kapiteln schläft Rudi Koralle ein, träumt von einem Delfin und wacht wieder auf, während Markus Jürgens, der schönste und beliebteste Showmaster dieser Tage, sich auf seinen großen Auftritt vorbereitet, unterstützt von seinem Tourmanager Bernd Stein, dem eine für den weiteren Verlauf der Geschichte bedeutende, aber nicht vorhersehbare Rolle zukommt.
Die Grugahalle war seit sechs Monaten restlos ausverkauft, 10371 Karten waren an leidenschaftliche Fans verkauft worden, und alle waren gekommen, kein Platz war leer geblieben. Rentner mit ihren Enkeln beherrschten das Bild, dazwischen ein bunter Potpourri aus Betriebsausflüglern, Damenclubs und Herrenrunden. Alkohol war schon vor Beginn der Veranstaltung sowie während der zwei bisherigen Werbepausen ausgeschenkt und reichlich genossen worden, die Stimmung im Saal köchelte ihrem Siedepunkt entgegen. Die ‚Bone Collectors‘ hatten den Abend mit der berühmten Erkennungsfanfare eröffnet, erstklassig untermalt mit einer phänomenalen Lightshow, die wie immer alles bisher gesehene in den Schatten stellte. Während die Akkorde in Wellen anrollten und sich zum Donner erhoben, zitterte ein Stakkatogewitter aus roten und violetten Blitzen durch die Halle. Ein älterer Herr, zum Glück in einer hinteren Reihe, erlitt einen epileptischen Anfall, überstand diesen jedoch, obwohl zwischen Stuhlreihen eingeklemmt, ohne ernsthafte Verletzungen und lies sich nach Abklingen des Krampfes nicht davon abbringen, der Show weiterhin beizuwohnen. Zwischenzeitlich war die Musik zu einem gewaltigen Crescendo angeschwollen, das Publikum hatte an genau der richtigen Stelle angefangen, mit den Füßen ein stampfendes Grollen anzustimmen, das den Saal zum Beben brachte, bis ein gewaltiger Paukenschlag ertönte und er, Markus Jürgens, umgeben von weißen Lichtblitzen und einem Schauer aus goldenem Konfetti, die riesige, sanft geschwungene Rampe betreten und sein breitestes Showmasterlächeln zum Besten gegeben hatte, dabei die Arme ausbreitend, zur linken Seite des Saals winkend, einen imaginären guten Freund in der 33. Reihe grüßend und sich gestenreich bei der Kapelle bedankend, deren letzter Tusch gerade verklungen war. „Guten Abend! Guten Abend, verehrtes Publikum! Wie schön, Sie heute bei ‚Zauber des Alters‘ begrüßen zu dürfen“. Er wusste: nach dieser Ouvertüre konnte nichts mehr schief gehen, der Abend würde ein Selbstläufer werden. Seine Show stellte selbst ‚Wollen wir wetten‘ mit Andreas Gottnarr in den allertiefsten Schatten, in den Kohlenkeller des Showbizz.
Bernd Stein beobachtete aus dem Seiten-Off den glamourösen Auftritt seines Chefs. Alles klappte vorzüglich, und wer hatte das mal wieder auf die Beine gestellt? Zufrieden schaute er zu, wie Markus Jürgens unter tosendem Applaus die Rampe hinunter schritt, jede Bewegung wohl dosiert und berechnet, ein Bild, als würde ein griechischer Gott der Akropolis und den jubelnden Massen in Athen seinen Besuch abstatten. ‚Beim nächsten mal nehmen wir einen goldenen Streitwagen mit vier weißen Pferden…‘, schoß ihm durch den Kopf, ‚…und Vestalinnen in durchsichtiger Seide, so ein Hauch von Nichts, dass Opa noch einmal so richtig in Fahrt kommt. Am besten, eine Brust frei. Oder beide? Nee, eine, das sieht griechischer aus. Wer weiß schon, das Vestalinnen zu Rom gehören.‘
Seine linke Hand spielte in der Hosentasche mit dem Zettel. Er schaute kurz darauf, las die Telefonnummer. ‚0521, Bielefeld…darauf reimt sich Arsch der Welt‘, dachte er. ‚Wie kann man sich nur in Bielefeld verkriechen?‘ Unwillkürlich dachte er an ein sterbendes Reh, das sich in den hintersten Winkel des Waldes zurück zog. „Bielefeld, nicht zu fassen“, knurrte er, während er zuschaute, wie Markus Jürgens seinen ersten Stargast empfing. Cheap war extra aus Amerika eingeflogen, um dem deutschen Publikum ihre Gunst zu erweisen und sich ein letztes mal auf ihren Lorbeeren aus den 60er Jahren zu wälzen. ‚Mein Gott, was für eine Botoxfresse“, dachte Bernd. Einige Teile von Cheap sollten angeblich schon das würdige Alter von 82 erreicht haben. Er würde eher auf 87 tippen. Er hörte nicht auf den zittrigen Gesang der Diva. Er freute sich auf Ina Meyer. Die war wirklich gut, die hatte nur Pech gehabt. Niemand wusste so recht, woran ihre Karriere gescheitert war. Gerüchte kursierten, und alle Welt wusste, dass sie gebrochen war bei ihrem tiefen Sturz. Sie trank und galt als unberechenbar. ‚Darauf reimt sich bipolar, wer weiss…‘, dachte Bernd. Er riss sich aus seinen Grübeleien und ging in’s Studio. Er überprüfte die Verbindung seines Smartphones zur Kommunikationszentrale und tippte die Nummer von Rudi Koralle. Das Freizeichen sang in seinem Ohr.