Heimat

(Kurzgeschichte aus dem Buch „Kreuzverkehr“):

Bisher war es immer nur so ein unbestimmtes Gefühl. Dunkle Bilder,  die sich einfach nicht belichten ließen, wohnten von Anbeginn in meinem Hinterkopf. Doch blieben sie allgegenwärtig als ein Versprechen zur Auflösung dieses quälenden Schwebezustandes, der es mir verwehrte, festen Boden unter den Füßen zu spüren.

Nun ist es endlich Gewissheit – ich wurde schändlich betrogen und das bereits vor meiner Geburt!  Staunend stehe ich an einem Abhang, vor mir eine Landschaft, die so schön ist, dass es mir Tränen in die Augen treibt. Ich lasse den Blick gleiten über das Inntal mit Kufstein, dahinter erhebt sich das Kaisergebirge in all seiner Erhabenheit. Ganz weit und heiter wird mein Herz und frei mein Hirn, alle Angst weicht von mir. Der Berg zieht mich magisch an und ich werde ihn in den nächsten Tagen genau erkunden. Jede Alm, all diese wunderbaren Berghöfe und Ortschaften von Wildbichl bis über Kufstein hinaus bedeuten mir, hier gehöre ich hin! Dies ist meine lang vermisste Heimat.

Ganz deutlich werden meine Kopfbilder, spiegeln genau diese Landschaft wider, und ich erinnere mich: Viele Jahre zuvor schwebte meine Seele schwerelos im Universum, erneuerte sich in unendlichem Frieden und wohltuender Dunkelheit. Schwer waren die Verletzungen des vorigen irdischen Daseins gewesen, aber langsam hatten sich Gedanken und Gefühle aufgelöst, die Erinnerung verblasste mehr und mehr. Befreit genoss sie den Zustand des körperlosen Daseins. Und nun sollte es schon wieder losgehen? Ich wollte nicht und würde nicht, war einfach noch nicht so weit! Erneut hinein geworfen werden in die Unwägbarkeiten der ewig hetzenden menschlichen Unordnung?  Noch brauchte ich diese Stille, hatte mich bei weitem noch nicht lange genug erholt. Man sollte mich doch einfach in Ruhe lassen. Zwingen konnten sie mich ja nicht, noch einmal geboren zu werden. Ohne meine Zustimmung war es nicht möglich.

Keine Ahnung, warum die Wahl gerade auf mich gefallen war, aber die Stimmen wurden drängender. Dass ich schließlich doch darauf einging, mehr noch: meine Weigerung sogar voller Vorfreude widerrief, lag an dem Angebot, das mir gemacht wurde. Ich durfte einen Blick werfen auf den Ort, an dem ich mein zukünftiges Leben verbringen sollte. Vor mir erschienen sanfte Hügel von einem unglaublichen Grün, die sich in die Höhe schwangen, abgelöst durch dunkle, satte Wälder, an deren oberem Ende sich eine silbergrau glänzende Steinwand erhob, die sich glutrot färbte in den letzten Sonnenstrahlen. Davor im weiten Tal schlängelte sich ein grünlich glitzernder Fluss. Ja, dort wollte ich leben! Also war es beschlossen.

Doch dann war alles ganz anders gekommen. Ich wuchs am Rande eines Mittelgebirges auf. Es war nicht hässlich dort, aber ich fühlte mich ständig fehl am Platz, irgendwie rundum falsch. Aber wie konnte das sein? Da ich hier geboren war, konnte ich doch gar nichts anderes kennen? Eine dumpfe Sehnsucht, die ich nicht benennen konnte, trieb mich um. Das ließ mich zu einem störrischen Kind voller Widerspruch und ständiger Gegenwehr werden. Verbissen ging ich gegen alles an und trieb mich selbst schließlich von Wettkampf zu Wettkampf, um wenigstens für einige Augenblicke Glück zu empfinden, bevor ich erneut ernüchtert zurückfiel in die Leere meines hohlen Kerns. Was immer ich auch zu suchen glaubte, ich konnte es nicht finden. Es drängte sich mir der Verdacht auf, ich sei wohl ein wenig verrückt.

Zutiefst verunsichert durch meinen rastlosen, aufbrausenden Geist häufte ich wahllos gewaltige Mengen an Wissen an, lernte viele Sprachen und bereiste als Dolmetscherin fast die ganze Welt. Phantastische Orte hatte ich gesehen, wunderbare Völker und Kulturen kennen gelernt. Doch stets musste ich mit schmerzlichem Bedauern feststellen, dass ich nur Beobachter blieb, mich niemals als Teil der Gemeinschaften fühlte. Wie beneidete ich diese Menschen, die sich heil und sicher fühlten in ihrer Welt. Gebirge hatte ich erwandert, Berge bestiegen und manchmal, ganz manchmal, auf den Höhen glückselig auf  die umliegenden Gipfel geblickt, weil dort das Ziel meiner Sehnsucht zum Greifen nah schien.

Meine zwischenmenschlichen Beziehungen waren geprägt von Misstrauen und Abgrenzung. Da ich davon überzeugt war, doch nur verletzt und verraten zu werden, sobald ich mich öffnete, verfolgte ich die Strategie der offensiven Abwehr. Ich kam also vorsichtshalber dem Anderen zuvor und verletzte ihn meinerseits zuerst. Damit schaffte ich die Möglichkeit, jede gefährliche Annäherung umgehend zu unterbinden. Kurz gesagt – ich blieb allein. Meine Eltern blickten meinen seltenen Besuchen wohl eher ängstlich als freudig entgegen.

In diesem Sommer nun wollte ich nicht so weit reisen und hatte deshalb das Zillertal in Österreich für den Urlaub ausgesucht. Auf der Hinfahrt war plötzlich die Autobahn gesperrt und ich dadurch gezwungen, über Land zu fahren. Mein Weg führte mich vorbei am Chiemsee, weiter nach Aschau, der Grenze entgegen. Je weiter ich kam, umso heftiger ergriff mich eine wilde Vorfreude, die mich sehr verwunderte. Nachdem ich das Dörfchen Sachrang passiert hatte, entdeckte ich kurz hinter der Grenze einen beeindruckenden alten Gasthof namens „Wildbichl“, wo ich ausgedehnte Rast machte. Unter ausladenden Kastanienbäumen genoss ich neben den Mehlspeisen den Blick auf einen Berg, von dem ich mich gar nicht mehr lösen konnte. Auf mein Befragen erfuhr ich, dass dies der „Zahme Kaiser“ sei, es auch noch einen „Wilden Kaiser“ gäbe und alles zusammen „Kaisergebirge“ hieße. Ich spürte, wie ich immer mehr strahlte, während ich mich umschaute und ziemlich melancholisch wurde. Am liebsten wäre ich geblieben, aber im Zillertal hatte ich bereits reserviert. Deshalb beschloss ich gegen mein Gefühl, die Reise wie geplant fortzusetzen. Meine Vernunftgründe überstanden gerade mal die nächsten drei bis vier Kurven.

Hier stehe ich also. Jetzt endlich die Auflösung, Befreiung von all diesen Selbstzweifeln. Ich habe nun  nach  Jahren des Suchens meinen Seelenort, der mir versprochen war, erreicht und wiedererkannt. Heiße Tränen fließen. Aus dem Autoradio tönt “I`m from Austria“ von Reinhard Fendrich. Ich höre dieses Lied zum ersten Mal, es drückt alles aus, was ich empfinde. Mehr gibt es nicht zu sagen. Morgen werde ich zurückfahren, meine Angelegenheiten in Ordnung bringen, zusammenpacken  und dann –  ja dann komme ich hierher –  nach Hause – für immer!

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